Große Politik, kleine Sportarten: Vier Erkenntnisse von „Tokyo 2020“

Sven Rieckmann, Creative Director

Die Olympischen Sommerspiele in Tokio sind beendet. Welches Fazit kann man als Designer aus ihnen ziehen? Ich stelle fest: Diese Olympischen Spiele waren anders, als viele zuvor. Und gegen einen packenden Kanu-Slalom hat auch Fußball keine Chance.

Egal, wie man zu den Olympischen Spielen steht und aus welchem Blickwinkel man sie betrachtet – auf eines können wir uns sicher einigen: Dieses Olympia war ganz anders als sonst. Das liegt natürlich daran, dass die Spiele inmitten einer Pandemie ausgetragen wurden. Man kann sicher lange über das Für und Wider diskutieren und ob es richtig war, das ganze Event überhaupt stattfinden zu lassen. Rein objektiv führte dies jedoch zu ganz neuen Rahmenbedingungen: Ohne Zuschauer in den Stadien und an den Streckenrändern wandelten sich die Wettkämpfe zu einem reinen Fernsehereignis. Die Atmosphäre, die für die Athletinnen und Athleten live sicher fehlte, hat die Regie für die Zuschauer an den Bildschirmen erfolgreich inszeniert. Mitunter mit weniger Schwenks auf Tribünen und bunter Bestuhlung, um das Fehlen des Publikums zu kaschieren.

Dabei gab es auch ungewollte Nebeneffekte. Wer die Geisterspiele der Fußball-Bundesliga verfolgt hat, hat sich schon bei diesen gewundert, wie viel Kommunikation am Spielfeldrand plötzlich über die Fernsehbildschirme wahrnehmbar ist. Und auch in Tokio haben wir gemerkt: Die Mikrofone bekommen wirklich alles mit. „Hau drauf, hau mal richtig drauf!“ – keine gute Idee, wenn dies eine Trainerin im Fünfkampf ruft und die Athletin daraufhin heulend auf das bockende Pferd schlägt. Der Shitstorm folgt nur Sekunden später. Von den rassistischen Entgleisungen des deutschen Rad-Sportdirektors ganz zu schweigen.

1. Olympia in Tokio: das war so politisch wie lang nicht mehr

Ja, dieses Olympia war anders als sonst – aber nicht nur, weil die Zuschauer fehlten, sondern weil es die politischsten Spiele seit Jahrzehnten waren. Sportler stehen für drei Wochen im Rampenlicht der Öffentlichkeit und nutzen dies, um auf ihre gesellschaftlichen Anliegen aufmerksam zu machen. Die öffentlich eingestandenen mentalen Probleme von Turnerin Simone Biles, die Protestgeste der Kugelstoßerin Raven Saunders, die Flucht der belarussischen Leichtathletin Kristina Timanowskaja nach Polen, deutsche Turnerinnen, die in langen Hosen statt knapper Outfits antreten – lauter Beispiele, die uns vor Augen führen: Ja, wir befinden uns bei der größten Sportsveranstaltung der Welt, aber Sport ist verdammt noch mal nicht alles. Eine Entwicklung, die das Olympische Komitee – ähnlich wie die FIFA und UEFA – vor die unangenehme Herausforderung stellt, sein Handeln im Kontext finanzieller und kommerzieller Interessen neu justieren zu müssen, um glaubwürdig zu bleiben.

2. Olympia in Tokio: das war erfolgreiche Wiederverwertung

Wie schon die Fußball-EM blieben auch die Olympischen Spiele dem visuellen Erscheinungsbild treu, das schon für das vergangene Jahr entwickelt wurde. Ich habe ja manchmal gestutzt, wenn mein Blick auf das Logo fiel: „Tokyo 2020“ – echt jetzt? Aber dann habe ich mir vorgestellt, welcher Aufwand es gewesen wäre, hätte man alle Werbemittel und Beschilderungen neu produzieren müssen. Das gilt natürlich auch für alle Lizenznehmer und Sponsoren, die das Logo für ihre Kommunikation nutzen: Soll man all das einstampfen, nur weil sich eine Jahreszahl geändert hat? Sicher nicht. Zumal die generelle Aussage mit dem – recht generischen – Motto „United by Emotion“ ja weiterhin passt. So wenig Emotionen der visuelle Auftritt der Spiele insgesamt bei mir auslöste, so cool und ungesehen fand ich hingegen die Inszenierung der Piktogramme bei der Eröffnungsfeier: Ein schönes Zitat der Spiele, die 1964 schon einmal in Tokio ausgetragen wurden und aus deren Anlass erstmals ein Piktogramm-Set entwickelt wurde, um Sprachbarrieren zu überwinden.

3. Olympia in Tokio: das war ein Heimspiel für die Team-Ausstatter

Ganz ehrlich: Wann gibt es noch Sportveranstaltungen, die ohne plakatives Sponsoring auskommen? In Wimbledon wird noch vor herrlich schlichten grünen Banden auf dem Rasen Tennis gespielt – aber sonst? Ausgerechnet die als Kommerz-Maschinerie verschrienen Olympischen Spiele bieten dem Sport einen ungewohnt puristischen Rahmen. Übrigens einen, in dem die Ausstatter der jeweiligen Teams mit ihrem Branding umso stärker auffallen – das lohnt sich! Ja, nicht jeder mochte den knalligen Auftritt der deutschen Mannschaft mit ihren Klamotten. Ich fand‘s markig und lifestylig, wenngleich es beim Turnen und Tischtennis in Sachen Fashion noch mächtig Luft nach oben gab. Schade, dass man als „Normalo“ die Sachen nicht kaufen kann – vielleicht aber auch ein Zeichen der Wertschätzung und eine schöne Erinnerung für alle Teilnehmenden.

4. Olympia in Tokio: das war fesselnde Kameraführung in Nischensportarten

Falls Sie es nicht mitbekommen haben: Durch ein 2:1 gegen Spanien sicherte sich Brasilien die Goldmedaille im Fußball. Sie haben stattdessen lieber gebannt vor dem Fernseher gesessen und beim Kanu-Slalom mitgefiebert? Dann ging es Ihnen wie mir! Als Fußballfan verfolgt man in der Sommerpause schließlich Transfergerüchte und wartet auf den Start der Bundesligasaison – bei Olympia gibt es hingegen in dieser Sportart eher wenig Überraschendes. Anders hingegen bei vielen kleineren Sportarten, auf die man sich einlassen konnte. Beim Segeln zum Beispiel haben sich Kameraperspektiven über die Jahre extrem weiterentwickelt: 2021 bin ich gefesselt, sitze gefühlt live mit auf dem Boot und spüre die Anstrengung der Athletinnen und Athleten. Virtuelle Einblendungen bieten zugleich Orientierung, wer führt und wer welchen Platz belegt. Super-Slowmotions im Kanufahren inszenieren Kraft, Eleganz und Präzision zu einem hochemotionalen Erlebnis. Applaus dafür!

Was bleibt mir noch als Erkenntnis? Ich könnte Pausen im Job nutzen und nebenher stricken – so, wie der britische Turmspringer Tom Daley. Das soll ja entspannen. Oder ich bleibe meinem Beruf treu und entwickle ein Logo für die Olympischen Spiele 2032 in Brisbane. Denn soweit ich sehen kann, gibt es das noch nicht. Und wer hat als Gestalter nicht schon davon geträumt, ein Logo für Olympia zu entwerfen? Beim Wettbewerb um das Logo für „Tokyo 2020“ wurden seinerzeit übrigens 15.000 Beiträge eingereicht – woher die alle gekommen sind, ist ein Rätsel, das für mich auch weiterhin ungelöst bleibt.

Der Autor